Bewegungswissenschaft
Interviewreihe - Eine Fakultät stellt sich vor #12Körper-Forschung in Zeiten von Corona und DigitalisierungInterview mit Prof. Dr. Gabriele Klein, Arbeitsbereichsleitung Kultur, Medien und Gesellschaft, Institut für Bewegungswissenschaft
31. Mai 2021, von Webmaster PB

Foto: Wohlfahrt/UHH
Im Exzellenzcluster „Understanding Written Artefacts“ untersuchen Forscher:innen die Entwicklung und Funktionen von Schriftartefakten in Manuskriptkulturen weltweit. Sie haben das Cluster mit eingeworben und sind zudem Leiterin des Teilprojektes Choreographies of Archiving. A Cross-Cultural Study of Archiving Practices in Contemporary Dance. Können Sie uns darüber mehr erzählen?
Wir leben in einer Zeit der Digitalisierung, in der Schrift, vor allem das Handgeschriebene, immer mehr an Bedeutung verliert. In dem Cluster untersuchen Forscher:innen aus vielen unterschiedlichen geistes- und auch naturwissenschaftlichen Disziplinen die Rolle, Bedeutung und Funktion von Schrift, Schriftkulturen und -materialien in verschiedenen Epochen und Kulturen. Warum und wofür war Schrift wichtig?
In unserem Teilprojekt geht es um zwei Fragen: Welche Bedeutung haben schriftliche Aufzeichnungen im choreografischen Schaffensprozess und wie dokumentieren und archivieren Choreograf:innen ihre künstlerischen Arbeiten und lassen diese damit Teil einer Erinnerungskultur werden? Die erste Frage wendet sich gegen ein (Vor-)Urteil, das behauptet, Tanz wäre eine reine Körperpraxis. Vielmehr ist ja im Begriff Choreo-Graphie das Schreiben selbst schon thematisiert. Die zweite Frage beschäftigt sich mit dem Problem der sog. „flüchtigen Kunst des Tanzes“, einer Kunstform, die nur im Moment der Aufführung existiert und an den ausführenden Körper gebunden ist. Wie also wird die Zeitkunst Tanz zur Geschichte? Diese Frage berührt unmittelbar die Übersetzung in andere Medien, die Schrift, das bewegte Bild / den Film und mittlerweile auch digitale Formate.
Wir wollten dies eigentlich in der ersten Projektphase, die im April 2020 begonnen hat, an verschiedenen Choreograf:innen aus unterschiedlichen Kulturen (Indien, Japan, Senegal und Deutschland) untersuchen, auch um die unterschiedlichen Kulturpolitiken im Umgang mit Tanz herauszuarbeiten. Aber durch die Pandemie bedingten Einschränkungen mussten wir unsere Forschungspläne umstellen und haben die 2. Projektphase vorgezogen und uns auf zeitgenössische Choreograf:innen konzentriert, die in Deutschland leben. Zwar konnten wir hier bislang auch nur sehr eingeschränkt das Archivmaterial anschauen, aber dennoch viele Interviews führen. Unsere Forschungen sollen im Rahmen einer Ausstellung präsentiert werden.
Zusammen mit Ihrer Kollegin Prof. Liebsch von der HSU forschen Sie über die Rolle der Körper in der Corona-Pandemie. Welche ersten Erkenntnisse können Sie mit uns teilen?
Wir haben mit unseren Forschungen bereits im März 2020 begonnen. Denn es war ja mit dem ersten Lockdown klar, dass durch die Pandemie die biologischen Körper von den sozialen Körpern abgetrennt betrachtet werden. Das Virus richtet sich an die biologischen Körper, den sozialen Körpern werden deshalb Kontakteinschränkungen auferlegt. Uns geht es darum zu fragen, welche Konsequenzen das sog. Social Distancing konkret auf Körperinteraktionen, auf Berührungserfahrungen, auf die Verhältnisse von Distanz und Nähe hat.
Wir gehen davon aus, dass die Corona-Pandemie einen rasanten Beschleunigungsschub hin zu einer digitalen Gesellschaft initiiert hat, was wir alle am Home-Office, Home-Schooling etc. erleben. Wir selbst untersuchen dies an verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, für die der Körper, Körpernähen und -präsenzen wichtig sind: Sport, Tanz, Kultur, Pflege, Therapie, aber auch Alltagspraktiken wie gemeinsam essen, Parties machen, Sex haben.
Unser Ziel ist es, zu zeigen, wie sich Sozialität, die sich in den Praktiken körperlicher Distanzierung und über digitale Medien realisiert, die Verhältnisse zum eigenen Körper und zu den Körpern der Anderen neu ordnet. Wie integrieren Menschen die Ge- und Verbote körperlicher Begegnung in ihren Alltag? Was z.B. machen Videomeetings mit den Menschen? Kann man in der digitalen Gesellschaft von einer „berührungslosen Gesellschaft“ (von Thadden) sprechen oder ändern sich eher die Muster und Modi des Berührens?
Wir haben dazu auch im Rahmen der Reihe „Corona-Soziologie“ des Wissenschaftszentrums Berlin zwei Podcasts gemacht:
- 29.04.2020: Körper im ‚Ausnahmezustand. Wissenschaftszentrum Berlin (WZB),
- 19.11.2020: Vom Ausnahmezustand zum Krisenmodus. Körper in der Corona-Pandemie. Wissenschaftszentrum Berlin (WZB)
Wie meistert Ihr Arbeitsbereich die Pandemie in Bezug auf Forschung und Lehre?
Wir - meine Mitarbeiter:innen, die Lehrbeauftragten und ich – haben uns im März 2020 zusammengesetzt und unser Vorgehen im Kontext des digitalen Unterrichts besprochen. Wir machen immer vor dem Semester Lehrbesprechungen, wo wir die einzelnen Lehrpläne durchgehen, nochmals den Einzelnen Anregungen geben oder auch besprechen, wie wir die Lehrveranstaltungen aufeinander abstimmen. Nun mussten wir auch besprechen: Was erwarten und verlangen wir von den Studierenden in dieser Situation? Wie sind unsere Regeln bei der ZOOM-Lehre? Welche Formate nutzen wir? Welcher didaktischen Konzepte sind in der digitalen Lehre gut und richtig? Wie geben wir Motivation, Rückmeldungen? Wie fangen wir Studierende auf? Diese Fragen haben wir im Laufe der mittlerweile drei Semester immer wieder besprochen und auch dabei viel gelernt. In diesem Sommersemester führen wir zudem gemeinsam ein gefördertes Lehrforschungsprojekt durch, in welchem wir die Lebenssituationen von Studierenden, die in Studium und Alltag viel mit Sport und Bewegung zu tun haben, in Zeiten digitaler Lehre und Kontakteinschränkungen untersuchen.
In der Forschung ist es schwierig. Wir machen zwar keine Laborforschung, aber empirische Forschung, meist qualitativer Art. Hier mussten sich manche Dissertationsprojekte und auch Forschungsprojekte (s.o.) deutlich umstellen. Manche hatten auch mit Doppelbelastungen zu kämpfen. Aber wir haben unsere Kolloquien weiter durchgeführt und auch hier stand und steht die Frage im Vordergrund: wie bleiben wir alle am Ball, verlieren nicht den Biss und die Motivation?
Insgesamt bin ich sehr beeindruckt, wie wir dies bislang geschafft haben und vor allem auch, darüber, welche kreativen Präsentationsformen Studierende bereitstellen und wie bedacht und reflektiert sie insgesamt mit der Ausnahme-Situation umgehen, die auch eine Ausnahme bleiben muss. Universität – in Lehre und Forschung – kann nur in Präsenz erfolgreich, innovativ und wegweisend sein.
Zur Person
Prof. Dr. Gabriele Klein, geboren 1957, studierte von 1977 bis 1985 Sozialwissenschaft, Geschichte, Sportwissenschaft, zeitgenössischen Tanz und Pädagogik in Bochum, Essen und Amsterdam. Sie wurde 1990 an der Ruhr-Universität Bochum promoviert und habilitierte sich 1998 an der Universität Hamburg. Seit 2002 ist Klein Professorin für Soziologie und Psychologie von Bewegung, Sport und Tanz am Institut für Bewegungswissenschaft der Universität Hamburg. Sie war 1987 Gründungsmitglied der Gesellschaft für Tanzforschung (GTF) und im selben Jahr Gründungsmitglied der Körpersoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (dgs), später deren Vorsitzende. Seit 2005 leitet Klein den internationalen und interdisziplinären Masterstudiengang Performance Studies. Sie wurde mit dem Dorothy-Ainsworth-Award für Internationale Forschungsleistungen zur Frauen- und Geschlechterforschung im Tanz sowie mit dem Frauenförderpreis der Universität Hamburg ausgezeichnet.