Bewegungswissenschaft
Interviewreihe - Eine Fakultät stellt sich vor #8„Den fehlenden Sehsinn können blinde Erwachsene durch gezieltes Training anderer Sinne zum Teil kompensieren und dadurch ihre Balanceleistung signifikant verbessern.“Interview mit PD Dr. rer. nat. Kirsten Hötting, wissenschaftliche Mitarbeiterin Arbeitsbereich Biologische Psychologie und Neuropsychologie, Institut für Psychologie
29. Januar 2021, von Webmaster PB

Foto: Wohlfahrt/UHH
Frau Hötting, in Ihrer Forschung untersuchen Sie die Veränderung kognitiver Leistungen durch Bewegung und Sport und deren neuronale Grundlagen. Erzählen Sie uns bitte mehr darüber!
Ich interessiere mich dafür, wie unser Gehirn und damit unsere kognitive Leistungsfähigkeit durch Erfahrungen veränderbar sind. Sport und Bewegung sind eine Form der Erfahrung, mit der wir die Anpassungsfähigkeit unseres Gehirns gezielt und kontrolliert in Trainingsstudien untersuchen können. Arbeiten mehrerer Forschergruppen der letzten Jahre haben insbesondere bei älteren Menschen gezeigt, dass regelmäßige Bewegung und Sport exekutive Funktionen, das Gedächtnis und die Aufmerksamkeit verbessern können. Auf neuronaler Ebene konnte man zeigen, dass Sport und Bewegung die Struktur und Funktion des Gehirns in Bereichen beeinflussen, die für exekutive Funktionen und Gedächtnisprozesse wichtig sind. Damit gilt Bewegung mittlerweile als ein wichtiger Baustein in der Prävention von kognitiven Leistungseinbußen im höheren Lebensalter. Wir wissen jedoch bisher noch weniger darüber, ob Bewegung und Sport auch schon im jüngeren und mittleren Lebensalter messbare Veränderungen auf kognitiver und neuronaler Ebene hervorrufen können, also in Phasen des Lebens, in denen die Leistungsfähigkeit im Allgemeinen ihr Maximum hat. Und wenn ja, haben unterschiedliche Formen von Bewegung und Sport differenzielle Effekte auf unterschiedliche kognitive Leistungen? Was sind zugrundliegenden Mechanismen auf neuronaler Ebene? Das sind Fragen, die ich sehr spannend finde und in meiner Forschung adressiere.
Sie haben kürzlich eine Balance-Trainingsstudie „Bewegung fürs Gehirn“ mit sehenden und blinden Menschen abgeschlossen. Welche Erkenntnisse konnten Sie dabei gewinnen?
Unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer zeigten nach an einem 12-wöchigem Balancetraining im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die ein Entspannungstraining durchführte, Verbesserungen im Gedächtnis und räumlichen Vorstellungsvermögen. Mit Hilfe der strukturellen Magnetresonanztomographie konnten wir Veränderungen in der kortikalen Dicke in Hirnbereichen feststellen, die Eingänge aus dem vestibulären System (Gleichgewichtssinn) verarbeiten und in denen diese Informationen mit Sehinformationen integriert werden. Wir vermuten, dass diese Bereiche des Gehirns durch ein Gleichgewichtstraining stimulieren werden und damit spezifische kognitive Funktionen verbessern können.
In einem zweiten Schritt haben wir dann zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus der Bewegungswissenschaft ein ähnliches Training mit blinden Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführt. Wir wissen, dass der Sehsinn sehr wichtig für das Gleichgewicht ist. So fällt es uns sehr schwer, mit geschlossenen Augen auf einem Bein oder auf kippeligem Untergrund zu stehen. Blinde Menschen schneiden im Durchschnitt in diesen Balancetests schlechter ab als sehende Menschen, die mit geöffneten Augen getestet werden. Mit der Trainingsstudie konnten wir jedoch zeigen, dass blinde Teilnehmerinnen und Teilnehmer nach 12 Wochen Training in Balancetests genauso gut abschnitten wie untrainierte sehende Personen mit geöffneten Augen. Den fehlenden Sehsinn können die blinden Erwachsenen vermutlich durch gezieltes Training anderer Sinne wie den Gleichgewichtssinn und die Propriozeption zum Teil kompensieren und dadurch ihre Balanceleistung signifikant verbessern. Diese Vermutung wird gestützt durch Daten, die wir mit Hilfe der Magnetresonanztomographie erhoben haben. Hier zeigten sich nach dem 12-wöchigen Training strukturelle Anpassungen im Gehirn der blinden Teilnehmerinnen und Teilnehmern in Gebieten, die für den Gleichgewichtssinn und die Propriozeption relevant sind.
Inwieweit lässt sich die Forschungsarbeit mit Ihrer Lehre verknüpfen?
In der Lehre bin ich verantwortlich für das Empirisch-Experimentelle Praktikum im Bachelorstudiengang Psychologie. In diesem Modul erwerben die Studierenden grundlegende Kenntnisse und Kompetenzen des wissenschaftlichen Arbeitens und der Anwendung von Forschungsmethoden zur Beantwortung psychologischer Fragestellungen. Hier kann ich meine Erfahrungen aus meiner Forschung immer einfließen lassen: Wie plant man eine Studie? Was zeichnet ein gutes experimentelles Design aus? Wie findet man Versuchspersonen und verfasst eine Aufklärung und Instruktion? Wie werden Forschungsdaten ausgewertet und kritisch diskutiert? Und wie werden Forschungsergebnisse nach den Standards unseres Faches dargestellt? Wichtig ist mir dabei, dass die Studierenden neben theoretischen Einheiten zur Wissenschaftstheorie, Versuchsplanung, Forschungsmethodik und Datenanalyse den Forschungsprozess aktiv erleben. So führen sie in diesem Modul zwei kleine Forschungsprojekte in studentischen Kleingruppen durch, zunächst im Wintersemester ein klassisches Experiment aus der Kognitionspsychologie und im Sommersemester dann ein Experiment zu einer selbst gewählten Fragestellung. Selbst zu erleben, welche Schritte ein Forschungsprozess umfasst, wie aufwändig z.B. eine sorgfältige Planung und Durchführung einer Studie ist, wo Fallstricke liegen und dass Ergebnisse nicht immer den vorher aufgestellten Hypothesen entsprechen, sind meiner Meinung nach zentral, um Forschungsergebnisse seines Faches beurteilen und einordnen zu können. Wie wichtig derartige Kompetenzen sind, erleben wir ja beispielsweise aktuell in der Corona-Pandemie.
Studentische Forschungsaktivitäten haben sich durch die Pandemie sicherlich auch verändert. Wie gehen Sie damit um?
Wie alle anderen Lehrveranstaltungen auch, haben wir das Empirisch-Experimentelle Praktikum ab dem Sommersemester 2020 mit großem Engagement der beteiligten Lehrenden auf ein digitales Format umgestellt. Das hieß auch, dass die studentischen Forschungsprojekte nur als Online-Studien durchgeführt werden konnten. Ich war beeindruckt, wie gut sich die Kleingruppen koordiniert haben, obwohl sie sich untereinander und mit uns Lehrenden nur digital treffen konnten, wie schnell sich alle in die Software für die Durchführung von Online-Studien eingearbeitet haben und wie kreativ die Forschungsfragen umgesetzt wurden. Dieses Format werden wir im kommenden Sommersemester aller Voraussicht nach beibehalten. Aber natürlich freue ich mich darauf, eines Tages Forschungsfragen wieder direkt mit den Studierenden im Seminarraum diskutieren zu können und Forschung im Labor durchzuführen.
Zur Person
Kirsten Hötting studierte Psychologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Anschließend promovierte sie an der Philipps-Universität Marburg zur multisensorischen Informationsverarbeitung bei blinden Menschen. Seit 2004 ist sie in Forschung und Lehre an der Universität Hamburg tätig, wo sie sich 2015 habilitierte. Das Thema ihrer Habilitationsschrift lautet “The effects of physical exercise and sensory deprivation on neuroplasticity and cognition”. Kirsten Hötting hat begleitend ein Studium der Hochschuldidaktik abgeschlossen (Master of Higher Education) und wirkt in der Fakultät als Studiengangsleitung des M.Sc. Psychologie mit.